Petticoat und Wirtschaftsboom: Rottweil in den 1950er-Jahren

Anfangs herrschte noch Mangel, der Krieg steckte den Menschen in den Knochen. Zusehends jedoch ging es wirtschaftlich aufwärts und ein optimistisches Lebensgefühl verbreitete sich: Auch Rottweil erlebte in den 1950er Jahren einen dynamischen Umbruch. Eine Ausstellung im Dominikanermuseum beleuchtet ab 6. April die bewegte Dekade. Guntram Vater, einer der Kuratoren und Ideengeber der Ausstellung, auf dessen reicher Sammlung die Schau maßgeblich beruht, erläutert im Gespräch mit der NRWZ, was er mit den Fünzigerjahren verbindet.

NRWZ: Herr Vater, der verstorbene Stadtarchivar Dr. Winfried Hecht hat in seiner Geschichte Rottweils die Nachkriegszeit unter der Überschrift gefasst: „Aus der Katastrophe zur Verwaltungsreform“ – welche Überschrift würden Sie den Fünfzigerjahren in Rottweil geben?

Guntram Vater: Ich würde sagen: Zwischen Besatzung und Mangelwirtschaft einerseits sowie Aufschwung und Aufbruch andererseits.

Auf seiner Sammlung beruht die Ausstellung im Dominikanermuseum weitgehend: Guntram Vater (Jahrgang 1940). Archivfoto: al

NRWZ: War die „Katastrophe“ von der Hecht spricht, also Diktatur, Krieg und Zusammenbruch, in den Fünfzigerjahren noch sehr präsent?

Guntram Vater: Das war schon in vieler Hinsicht greifbar. Je näher der Krieg noch war, desto mehr herrschte ein Gefühl, nochmal davongekommen zu sein.

Bis Mitte der Fünfzigerjahre waren die Kriegsauswirkungen durch das französische Militär in der Stadt sehr spürbar. Man hatte die Besatzungsjahre erlebt, man wusste, dass die Franzosen im städtischen Wald Holz schlugen und nach Frankreich brachten, dass das zweite Bahngleis nach Stuttgart als Kriegsentschädigung demontiert worden war. Hinzu kam lange noch eine Wohnungsnot, bedingt einerseits durch Kriegsheimkehrer und Flüchtlinge und andererseits durch die Franzosen, die Wohnraum requiriert hatten. Wir selber mussten ein Zimmer abgeben, andere die ganze Wohnung – man sprach dann von „Besatzungsverdrängten“.

Beliebtes Motiv in den 1950er Jahren: die Predigerkirche. Foto: Sammlung Guntram Vater

NRWZ: Die Fünfzigerjahre werden oft mit Wirtschaftswunder und Petticoat als Symbol einer neuen Lebensfreude verbunden – trifft das auch auf Rottweil zu?

Guntram Vater: Je länger der Krieg zurücklag, desto mehr wurde ein Aufbruchsgeist spürbar. Es ging dank harter Arbeit bergauf, von „Wirtschaftswunder“ würde ich aber nicht sprechen. Auch in den Zeitungen jener Jahre wurde das in Rottweil nicht so dargestellt – man war da bescheidener. Aber die Schaufenster füllten sich, es entstand Wohlstand, ein „American Way of Life“ verbreitete sich – wenn man das Geld dazu hatte, konnte man sich vieles leisten.

NRWZ: Wie kann man sich Rottweil in den Fünfzigerjahren vorstellen – was zeigen die Fotos, die Sie gesammelt haben?

Guntram Vater: Es gibt nicht das eine Motiv, in dem alle Veränderungen dieses Jahrzehnts greifbar werden. Es war vielschichtig und dynamisch: Am Ende der Fünfzigerjahre war vieles ganz anders als zu Beginn. Das zeigt sich zum Beispiel an der Zunahme des Verkehrs: Die Leute konnten sich erst ein Moped leisten, später gab es immer mehr Autos.

Auch der Stil und das ganze Lebensgefühl wandelten sich. Es gab zwei, später sogar drei Kinos in der Stadt, in denen man Heimatfilme schaute. Sonntags konnte man kleinere und größere Angeber antreffen – die einen posierten vor der Kapellenkirche mit dem neuen Mercedes, die anderen mit einem Kofferradio. In den späten Fünfzigerjahren fuhren die ersten in die Ferien nach Italien.

Blick in die Badgasse in den Fünfzigerjahren. Foto: Sammlung Guntram Vater

NRWZ: Was hat Sie selber bei der Sichtung der Motive für die Ausstellung am meisten überrascht?

Guntram Vater: In Gesprächen ist mir besonders aufgefallen, wie stark sich die Sprache und damit verbundene Vorstellungen verändert haben. Heute weiß kaum noch jemand, was „Mockele“ sind: Tannenzapfen, die man zum Anfeuern benutzte. Oder dass ein „Kletterbaum“, ein entrindeter Stamm ist, an dem Jugendliche hochstiegen, um oben eine Wurst oder einen Hosenträger zu ergattern – damals war das ein beliebter Anziehungspunkt bei Festen.

NRWZ: Winfried Hecht beschreibt Rottweil in den Fünfzigerjahren als stark vom Katholizismus geprägt – zum Beispiel durch den Katholikentag 1951 mit 20 000 Teilnehmern. Was zeigen Ihre Motive vom kirchlich-religiösen Leben?

Guntram Vater: Man war sehr religiös und besonders zu Beginn der Fünfzigerjahre noch sehr ernst gestimmt, gerade vor dem Hintergrund der überstandenen Not und Gefahr der Kriegszeit. Die Kirchen waren übervoll – die Kinos aber ebenfalls. Zum Katholikentag, einem wirklichen Großereignis, gibt es in der Ausstellung ein schönes Motiv. Ein anderes Thema, das die Rottweiler bewegte, war die Madonnenfigur auf der Hochbrücke. Die alte war beschädigt worden und die Diskussion um eine neue Madonna wurde lange und leidenschaftlich geführt.

NRWZ: Wirtschaftlich ging es in den Fünfzigerjahren auch in Rottweil bergauf – erzählen dazu die Fotos aus Ihrer Sammlung etwas?

Guntram Vater: Man sieht, wie schon gesagt, dass der Verkehr zunimmt. Man sieht auch, dass die Vitrinen der Geschäfte immer voller werden. Von den Konsumangeboten zeugen auch Werbeanzeigen, die Produkte wie eine Wäschepresse für den Haushalt oder ein Fernsehgerät anpreisen – Dinge, die das Leben leichter und angenehmer machten. Es gab auch sehr erfolgreiche Rottweiler Firmen wie Moker, Peter Uhren, Mahle oder die Pflug-Brauerei.

Besonders gut ablesbar wird die Wirtschaftsentwicklung im Baubereich: Die Häuser wurden gerichtet und es wurde viel neu gebaut: Schulen, der Musik-Pavillon im Stadtgraben, große Wohngebiete. Die Kehrseite war eine beginnende Zersiedelung.

NRWZ: Die Bevölkerung veränderte sich in den Nachkriegsjahren, es kamen nach dem Aufstand 1953 Flüchtlinge aus der DDR und später erste „Gastarbeiter“ – spiegelt sich dieser Wandel in den Motiven?

Guntram Vater: Sie waren im städtischen Leben präsent, haben sich aber erstaunlich schnell eingebracht und integriert – zum Beispiel, indem sie beim FV 08 kickten oder den Heimkehrer-Kreuzweg unterhalb des Spitals initiierten. Die ersten „Gastarbeiter“ sind bildlich kaum zu fassen. Man sah damals in deren Leben und Arbeitsumfeld nicht hinein.

NRWZ: Haben Sie in der Ausstellung ein Lieblingsmotiv?

Guntram Vater: Ja (lacht)! Ein Bub auf einer Aufnahme aus dem Jahr 1952. Er ist auf einem Gruppenbild der Narrenzunft zu sehen, das in Nürnberg entstand, wo die Zunft beim hundertjährigen Jubiläum des Germanischen Nationalmuseums im Hochsommer Brauchtumsaufführungen zeigte. Der Bub steht vor etwa 40 Leuten – mit Lederhose, Kniestrümpfen und einem damals hoch modernen Käpple mit Andenken-Ansteckern.

Guntram Vaters Lieblingsmotiv, entstanden 1952. Foto: Sammlung Guntram Vater

NRWZ: Was kann man aus Ihrer Sicht aus den Fünfzigerjahren lernen – im Positiven wie im Negativen?

Guntram Vater: Die junge Generation könnte beim Blick in die Fünfzigerjahre lernen, dass man damals Wohlstand durch harte Arbeit geschaffen hat und durch nichts anderes: Man hat damals regulär 49 Stunden gearbeitet, an sechs Arbeitstagen pro Woche. Von „Work-Life-Balance“ war nicht die Rede. Aber es ging aufwärts und man konnte innerhalb weniger Jahre etwas auf die Beine stellen.

Die Fragen stellte NRWZ-Redakteur Andreas Linsenmann.

Info: Die Ausstellung „Die 1950er Jahre in Rottweil“ im Dominikanermuseum (Kriegsdamm 4) ist von 6. April bis 14. September 2025 zu sehen und dienstags bis sonntags von 10 Uhr bis 17 Uhr geöffnet.




Ein Kommentar

  1. Was mich etwas irritiert, ist Herrn Vaters Antwort auf die Frage, was die Essenz aus den Erfahrungen der 50er Jahre für ihn sei, wozu er sich in einen Sermon an die ihm offensichtlich zu leistungsunwillige und bequeme Nachkommenschaft versteigt.
    Herr Vater, ist das Alles? Ist das wirklich Alles? Ist das eben Das, was wir an Erkenntnis aus diesem die BRD prägenden Jahrzehnt ziehen können, eine „schafft mal was und fordert nicht nur“ Ode an die „junge Generation“?
    Mir gruselt es, das ist nicht Zeitgeist im Bild, sondern eher BILD im Geiste.
    Die damalige Generation hatte allen Grund, mehr als hart zu arbeiten, hatte sie doch, insbesondere die Altvorderen, das Land nicht nur in einen weiteren Weltkrieg geführt, sondern diesen höchstselbst und aus freien Stücken angezettelt.
    Da liegt es doch nahe von diesen verlangen zu können, dass die auf Zeit überlassene Liegenschaft, hernach auch „besenrein“ an die nachfolgenden Generationen übergeben wird, oder?
    Die Millionen Toten, Zwangsarbeitenden und Besetzten, werden, inklusive der Ursünde Holocaust, zum Erbe dieser Generationen gehören, egal wie fleißig man danach „aufgebaut“ hat.
    „Einfach froh, den Krieg überstanden zu haben“, die Einschätzung war sicher Zeitgeist und nicht unberechtigt, aber dem übrigen Europa ging es nicht anders, musste man dort doch auch schon die zweite Generation gegen die marodierenden „Herrenmenschen“ ins Feld schicken.
    Ja, ja, die Besatzung, die Franzosen schlugen Holz in den geliebten Wäldern, wie bitter, als ob die Schergen von Todt und Speer das nicht gemacht hätten, aber die Franzosen nahmen nur das eine Gleis von Zweien, um die eingleisige Strecke, die wir gestohlen und nach Russland gebracht hatten, wiederherzustellen. Böse, böse, muss man schon sagen.
    Warum haben die fleißigen Altvorderen die eigentlich selbst mit 49 Wochenarbeitsstunden nie mehr wieder aufgebaut bekommen?
    Aber es geht ja konkret nicht um die große Welt, sondern ums älteste Städtchen des auch erst 1952 geschaffenen Bundeslandes und manchem Rottweiler Geschäftsmann dürften da trotz Wirtschaftswunder, auch negative Zukunftserwartungen im Magen gelegen haben, denn der Eine oder Andere musste eventuell damit rechnen, dass der ehemalige jüdische Kompagnon die „Arisierung“ seiner Geschäftsanteile wohl im Nachgang nicht so „tolerant“ handhaben würde, wie man es selbst tat.
    Leider kann man dem ehrenwerten Dr. Hecht dazu nicht mehr lauschen, aber wer einmal seine Stadtführung zu jüdischem Leben erleben durfte, für den stellten sich einige Fragen diesbezüglich.
    Jubiläumsfeier mit Brauchtumspflege im Germanen-Museum zu Nürnberg, ein Schelm der…, aber egal, die echte Auseinandersetzung mit dem Thema, sollte noch bis Ende der 60er dauern, auch so eine Altlast, der überaus „tatkräftigen“ 50er.
    Und dann, 1956, Samstag gehört der Vati mir! Mag dem konservativ-katholischen Rottweiler damals wie Gotteslästerung vorgekommen sein, dass man sich mit dem Wirtschaftswunderkapitän im Chefsessel anlegte, aber es gab auch damals schon Menschen die das Rückgrat hatten, nicht nur Zebrastreifen vor dessen Büro zu malen, damit die „Kriecher“ nicht von den „Radfahrern“ überfahren wurden, sondern ihren berechtigten Anteil von Kuchen auch einzufordern bereit waren.
    Die 50er waren tatsächlich viel mehr, als Petticoat, Käfer und „Wirtschaftswunder“, auch in der Provinz, aber Blaupause für die Zukunft, sind sie nicht, außer man kappt den Kontext und sucht sich das raus, was einem gefällt.




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